„Zu viel Sonne sollte kein Problem sein, sondern eine Chance“
Interview mit Achim Zerres
Um die Energiewende umzusetzen, brauchen wir möglichst viel Strom aus erneuerbaren Energien, also vor allem Wind und Sonne. Sie liefern günstige und CO2-freie Energie. Warum lesen wir denn in letzter Zeit so oft, dass zu viel Solarstrom ein Problem ist?
Das ist wie mit dem kleinen Kölsch. Eins oder zwei sind prima. Aber wenn es immer mehr werden, vor allem, wenn Sie sie nicht bestellt haben, dann haben Sie irgendwann ein Problem. Zu viel Sonne heißt, dass wir mehr produzieren als es Nachfrage gibt. Und dann wird es ein Problem. Nicht die Solarenergie als solche, sondern das Produzieren ohne dass Bedarf dafür besteht.
Wir haben also ein Missverhältnis zwischen Erzeugung und Verbrauch. Präsident Müller sprach in einem Zeitungsinterview mal vom „Stress im Stromnetz“. Worin besteht der Stress?
Es gibt zwei Effekte. Der eine ist: In sehr sonnenreichen Gebieten können die Leitungen an ihre Kapazitätsgrenze kommen. Die sind nicht dafür ausgelegt, dass sehr viel Leistung vor Ort produziert wird und nichts abgenommen wird. Es handelt sich in dem Fall um ein Transportproblem.
Es gibt also ein Problem, weil wir noch nicht genug Netze haben, in die man die Sonnenenergie einspeisen kann.
Das ist das eine. Das andere ist ein Problem des Gesamtsystems. Wenn Sie insgesamt immer mehr Elektrizität in das System einspeisen, ohne dass dem ein entsprechender Verbrauch gegenübersteht, dann läuft Ihnen irgendwann die Netzfrequenz weg. Wir brauchen eine Frequenz von 50 Hertz. Die bleibt deshalb stabil, weil Nachfrage und Erzeugung im Gleichgewicht sind. Das schwankt in sehr engen Grenzen. Wenn das aus dem Gleichgewicht kommt, dann greifen Schutzmechanismen. Sie sorgen dafür, dass Leitungen und Netze keinen Schaden nehmen. Doch das wird eine sehr unangenehme Situation.
Warum?
Es bedarf dann Eingriffe der Netzbetreiber ins System. Die müssen dann Erzeugung abschalten – im Extremfall, ohne dass es dafür einen Ausgleich gibt. Wir werden uns zusammen mit den Netzbetreibern bemühen, diese Eingriffe möglichst gering zu halten. Gering heißt, auch konsequent herkömmliche Maßnahmen zu nutzen. Für die gibt es nämlich einen Ausgleich.
Was sind herkömmliche Maßnahmen?
Es gibt zum einen die Möglichkeit, Regelenergie einzusetzen. Regelenergie ist eine Form von Energie, die gerade für Leistungsungleichgewichte vorgehalten wird. Für den Fall also, dass die Frequenz im Netz zu stark schwankt. Die ist aber eigentlich für ungeplante Ausfälle gedacht. Nicht für einen Fall, in dem ungesteuert immer mehr Leistung in das System eingespeist wird. Sie steht darüber hinaus nur in einem sehr begrenzten Rahmen zur Verfügung.
Darüber hinaus gibt es Maßnahmen, die wir als Redispatch kennen. Redispatch heißt: Die Erzeugung wird vor dem Netzengpass abgeregelt. Das sind dann zum Beispiel die stillstehenden Windräder oder auch abgeregelte Solaranlagen. Jenseits des Engpasses muss dann die Erzeugung hochgefahren werden. Das passiert in der Regel mit Gas-Kraftwerken.
Auf der gleichen Rechtsgrundlage würde man dann eben zur Systemstabilisierung Erzeugungsarten aller Art herunterfahren: Kraftwerke, Windräder, auch Photovoltaikanlagen. In diesem Falle mit Entschädigung. Trotzdem werden wir an die Grenzen dessen kommen, was wir an Möglichkeiten für solche Situationen haben.
Das klingt für mich nach einer paradoxen Situation. Es gibt zu viel Sonnenenergie. Die wird abgeschaltet, um dafür fossile Energie hochzufahren.
Das trifft auf den ersten Fall zu. Wenn also zu viel Solarenergie zu einer Leitungsüberlastung führt. Für den zweiten Fall, dass wir insgesamt viel zu viel Strom im System haben, werden die Netzbetreiber nirgendwo etwas hochfahren. Da wird einfach nur heruntergefahren.
Der Bundestag hat im Februar, noch kurz vor den Neuwahlen, einigen Anpassungen im Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) zugestimmt. Hilft das?
Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der Anreiz für Anlagen, sich steuerbar zu machen und sich tatsächlich am Markt zu orientieren, wurde ausgeweitet.
Steuerbar heißt was?
Netzbetreiber oder Vermarkter können eingreifen, also die Anlage hoch- oder runterfahren oder sogar ganz ausschalten, wenn es nötig ist. Das Problem, das wir mit „zu viel Sonne“ haben, besteht darin, dass viele dieser Anlagen eben nicht steuerbar sind und nicht auf Marktsignale reagieren. Da kann der Betreiber den Stecker ziehen – und sonst nichts. Wichtig ist, die gezielte Regelbarkeit auszuweiten. Wichtig ist, dass der Betreiber einen Anreiz hat, die Anlagen am Bedarf orientiert zu fahren und sie zu diesem Zweck regeln kann. Darauf kann bei „Stress im Netz“ dann auch der Netzbetreiber zurückgreifen.
Darüber hinaus hat das neue Gesetz für bestimmte neue Anlagen, die noch nicht ausreichend steuerbar sind, eine Leistungsgrenze eingeführt. Die dürfen nur noch sechzig Prozent ihrer technisch möglichen Kapazität einspeisen bis sie ausreichend steuerbar sind.
Entscheidend ist aber, dass man die Vermarktung dieser Anlagen am Strommarkt verbessert.
Das Problem rührt ja daher, dass viele Leute diese typischen Dach-Anlagen auf ihren Häusern haben, die nicht steuerbar sind. Sie verfügen gar nicht über eine Steuerungstechnik. Man hat am Anfang gedacht, die sind halt klein und machen den Kohl nicht fett. Diese Anlagen speisen also ein, ohne sich darum zu kümmern, ob irgendwo Nachfrage besteht.
Wir müssen es schaffen, diese vielen Anlagen einer Vermarktung zuzuführen. Dass sich Kunden für den Strom finden oder eigenen Verbrauch in diese sonnigen Stunden verschieben. Nach diesen Bedürfnissen würde dann Strom produziert werden. Dann hätten wir kein Problem mehr. In unserem Jargon heißt das Marktbetrieb. Der Marktbetrieb aller Solaranlagen und der flexiblen Verbrauchsgeräte muss zunehmen. Der Solarüberschuss wird dann direktvermarktet. Dafür hat das Gesetz erste Anreize gesetzt. Ich hätte mir da mehr gewünscht, aber immerhin.
Braucht es denn dann nicht auch eine technische Umrüstung für die bestehenden PV-Anlagen? Die müssten ja dann auch Privatmenschen erstmal bezahlen.
Die neuen Anlagen müssen natürlich nun erstmal ausgestattet werden. Aber es wäre natürlich sehr wünschenswert, wenn auch die bestehenden Anlagen diese technische Möglichkeit hätten. Zum Teil sieht das Gesetz das auch vor. Der springende Punkt ist aber: Der Marktbetrieb lohnt sich für den Anlagenbetreiber sogar. Ideal wäre also: Sie haben eine steuerbare Anlage und kombinieren die mit einem Speicher.
Der sollte dann nicht sofort volllaufen, wenn die PV-Anlage ab Sonnenaufgang produziert. Stattdessen füllt er sich genau dann, wenn wir zu viel Strom im System haben, und speichert ihn abends wieder aus. Damit können Sie etwa 500 Euro im Jahr sparen. Dann haben Sie in etwa fünf, sechs Jahren das Geld für die Anlage wieder drin.
Das ist aber Zukunftsmusik, oder?
Das Problem wird mit jedem Jahr größer. Die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) könnten dieses Jahr in so typischen Zeiten wie Pfingsten schon in unangenehme Situationen kommen und eingreifen müssen, wie ich es beschrieben habe. Bis 2026 muss mehr passiert sein, 2027 werden grundlegendere Lösungen nötig sein. Aber da sind wir auf einem guten Weg. Ich bin auch überzeugt, dass in einem etwas ruhigeren Regierungsgeschäft das nachgeholt wird, was in dem jetzigen Gesetz noch fehlt: Mehr Anreize, um die Regelbarkeit weiter auszudehnen. Steuernde Eingriffe technisch ermöglichen. Den Marktbetrieb bei den „Prosumern“ weiter stärken, einschließlich der Direktvermarktung von Solarstrom.
Ist das eigentlich etwas, dass Sie als Energie-Fachmann auch in Richtung Politik kommunizieren können? Werden Sie da auch gefragt?
Das werden wir sehen. (lacht) Ja, es ist absolut üblich, dass man sich auf der Fachebene im Ministerium austauscht. Das gilt gerade bei solchen sehr technischen Fragen.
Stromerzeugung und Netzausbau sind ja vor allem Aufgaben der Betreiber, also der Privatwirtschaft. Wie kommt die Bundesnetzagentur, in dem Fall also Ihre Leute in der Energieabteilung, ins Spiel?
Die Rolle der Bundesnetzagentur besteht im Grunde darin, die Marktakteure und die Netzbetreiber dazu zu bringen, ihre gesetzlichen Pflichten wirklich wahrzunehmen. Zum Beispiel, dass sie regelmäßig testen, ob die vorhandenen Steuereinrichtungen tatsächlich funktionieren. Bei einem ersten Durchlauf waren nur grob die Hälfte der steuerbaren Anlagen erreichbar. Das kann nicht so bleiben. Und da werden wir drauf dringen.
Außerdem gehört dazu, dass wir bestimmte rechtliche Bedenken aus dem Weg räumen. Manche Netzbetreiber haben immer noch Sorge, dass sie die Regelungen, die auch für Redispatch-Maßnahmen genutzt werden, womöglich in der Situation einer Überspeisung des Systems nicht nutzen dürften. Da sagen wir dann klar: Doch, ihr dürft. Wenn man sich darüber hinaus neue Maßnahmen ausdenkt, stellt sich immer die Frage nach den Kosten. Und wir als Bundesnetzagentur müssen allen klar machen, wie ernst die Lage ist. Mit dem Klima können wir nicht verhandeln. Wir müssen vermitteln, dass daraus Konsequenzen entstehen.
Wer eine PV-Anlage besitzt, erhält für jede Kilowattstunde eine Einspeisevergütung vom Staat. Wird sich für private Haushalte daran etwas ändern?
Bestehende Anlagen sind ja nicht betroffen. Bei den neuen Anlagen wird es einfach so sein, dass sie sich nicht mehr so schnell rechnen wie bisher. Bisher war es ja so: Für jede eingespeiste Kilowattstunde gab es in 2024 je nach Konstellation zwischen 6 und 13 Cent pro Kilowattstunde. Egal, ob die Energie gebraucht wurde oder nicht. In Zeiten des Überangebotes wird jetzt bei negativen Preisen nicht mehr gezahlt. Negativer Preis heißt ja nichts anderes als: Der Strom wird gerade nicht gebraucht.
Wird das den Ausbau der PV-Anlagen ausbremsen?
Es würde einen Anreiz setzen, die Anlagen gleich steuerbar zu machen.
Vielen Dank für das Gespräch.
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