„Wir brau­chen kein Wirt­schafts­wun­der, son­dern ei­ne Zu­kunft“

Interview mit Prof. Dr. Justus Haucap

Professor Dr. Justus Haucap, Professor für Wirtschaftswissenschaften mit einem Forschungsschwerpunkt auf der Regulierung netzbasierter Industrien.

Die Energieversorgung in Deutschland steckt mitten in einer großen Transformation. Was braucht es, damit sie gelingt?
Wir stehen in der Tat vor einer Herkules-Aufgabe. Der CO2-Ausstoß der Energiewirtschaft muss deutlich reduziert werden. Wir sind aus der Atomkraft ausgestiegen, haben aber nach wie vor Kohle- und Gaskraftwerke am Netz. Das Ziel ist, so schnell wie möglich auf Erneuerbare Energien umzusteigen. Dafür müssen wir sie ausbauen, das heißt, die Kapazitäten bei Erzeugung und Netzen erhöhen. Vor allem letzteres ist eine Kernaufgabe für die Bundesnetzagentur. Es muss schneller gehen als bisher. Hierfür wiederum ist es entscheidend, die Genehmigungen zu beschleunigen. Die Politik scheint das gut erkannt zu haben. (Die Bundesregierung hat mehrere Gesetze zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren erlassen, Anm. d. Red.) Gleichwohl hakt es manchmal in der Praxis. Geld ist weniger das Problem. Die Finanzierung ist verfügbar. Die administrativen Hindernisse sind viel größer. Auch die Akzeptanz in der Bevölkerung steht dem schnellen Ausbau ab und zu im Weg, jedenfalls auf der lokalen Ebene. Bundeskanzler Scholz spricht vom „Deutschlandtempo“. Das brauchen wir jetzt.

Sie haben die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher angesprochen. Auch Politik und Wirtschaft verfolgen ihre eigenen, jeweils unterschiedlichen Ziele. Kann es überhaupt einen Konsens geben?
Ein Konsens ist viel verlangt, vielleicht zu viel. In der Demokratie ist es auch nicht zwingend notwendig, immer einen Konsens zu erreichen. Wir sprechen hier von sehr langfristigen Investitionen. Deshalb wäre es schon gut, wenn die von einer großen Mehrheit getragen würden. Eine, die über die Lebensdauer einer Regierung hinaus besteht. In der Energiewirtschaft hatten wir immer schon ein Zieldreieck: sichere Versorgung, günstige Preise und Klimafreundlichkeit. Alles wichtig, aber manchmal schwer übereinzubringen. Versorgungssicherheit kostet Geld. Hier gibt es also schon mal ein Spannungsfeld zwischen Preisgünstig- und Verlässlichkeit. Auch der kurzfristige Umbau des Energiesystems ist nicht umsonst. Das bedeutet also Investitionen. Wir hoffen, dass wir deren Früchte später ernten können, wenn Deutschland klimaneutral ist. Die Industrie besteht natürlich darauf, wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen oder können auch nicht alle notwendigen Preiserhöhungen schultern. Die Inflation hat Vielen engere Grenzen gesetzt. Es gilt also, viel Überzeugungsarbeit zu leisten.

Wie sehen Sie die Rolle der Bundesnetzagentur dabei?
Sie steht in und vor einer besonderen Herausforderung. Ich sehe sie als Moderatorin mit der Aufgabe, die Interessen zwischen den verschiedenen Gruppen auszugleichen. Aber auch die Politik ist jetzt gefragt. Sie sollte die Frage klären, welche Kosten man den Bürgerinnen und Bürgern vorerst abnehmen kann.

Die Politik setzt die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich Wirtschaft und Gesellschaft entfalten können. Aber hat sie nicht auch die Aufgabe, die richtige Geschichte zu erzählen? Oder wie man heute sagt: das geeignete Narrativ zu setzen? Schließlich ist es unumgänglich, große Kosten zu bewältigen, um die Klimakrise zu bekämpfen.
Ja. Ich halte es für sehr wichtig, den Leuten reinen Wein einzuschenken. Jeder, der behauptet, die Transformation sei billig zu haben, verliert seine Glaubwürdigkeit. Eine solche Geschichte führt zu Enttäuschung. Es ist nicht hilfreich zu versprechen, alles würde automatisch laufen, alle würden nur gewinnen. Viele wären ohnehin skeptisch. Die Geschichte muss also lauten: Ja, es wird uns alle etwas kosten, aber es ist sinnvoll. Es ist ethisch geboten. Investitionen in die Umstellung auf klimafreundliches Wirtschaften sind Investitionen in die Zukunft. Für uns und zukünftige Generationen. Auch ökonomisch betrachtet gibt es keine Alternative zur Transformation. Mit dieser Botschaft kann die Politik Hoffnung transportieren – anstatt nur die Furcht vor Mangel und Einschränkungen. Der Gewinn ist nicht, dass alles günstiger sein wird, sondern eine Zukunft. Wir brauchen kein Wirtschaftswunder, sondern einen lebenswerten Planeten.

Laut dem EuGH-Urteil von vergangenem Jahr soll die deutsche Regulierungsbehörde unabhängiger arbeiten. Was bedeutet das im Zusammenhang mit der Regulierung des Energiesektors?
Ich habe das Urteil sehr begrüßt. Es war eine gute Entscheidung. Investitionen in die Energiewirtschaft, zur Erzeugung, aber noch mehr in die Netze, sind sehr langlebige Investitionen. Der Staat wird die nicht alleine stemmen können. Das heißt, wir brauchen private Unternehmen. Die wollen möglichst stabile Rahmenbedingungen. Sie wollen einfach wissen, worauf sie sich einlassen. Die Politik neigt dazu, in Vier-Jahres-Horizonten zu denken, also von einer Wahl bis zur nächsten. Dabei werden Entscheidungen schnell umgestürzt. Wir kennen das vom Atomausstieg. Aber Umfrageergebnisse und tagespolitische Ereignisse bringen Unsicherheit. Eine größere Unabhängigkeit einer Behörde, die auf der Grundlage von Sachverstand arbeitet, ist also geboten. Ich bin von Haus aus Wettbewerbsökonom. Deshalb ziehe ich den Vergleich zum Bundeskartellamt heran. Das ist eine Behörde, die weitestgehend unabhängig von der Tagespolitik entscheidet. Meine Wahrnehmung ist, dass ihre hohe Reputation darin begründet liegt, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Man kann sich darauf verlassen, dass das Kartellamt sehr systematisch und kompetent entscheidet. Die Bundesnetzagentur hat bisher noch nicht den gleichen Grad an Unabhängigkeit. So gibt es zum Beispiel den politischen Beirat, der Entscheidungen der Netzagentur diskutiert. Dass die Politik zu kurzfristig denkt, hat ja auch schon das Bundesverfassungsgericht im Klimaschutzurteil klar herausgestellt. Eine politisch unabhängige Bundesnetzagentur könnte dem entgegenwirken.

Bedeutet mehr Unabhängigkeit auch weniger Lobbyismus?
Da bin ich optimistisch. Vertreter unterschiedlicher Interessengruppen sind im Austausch mit der Bundesnetzagentur. Das ist auch gut so. Diese Gruppen sind ja auch Teile der Zivilgesellschaft. Und natürlich gibt es hier auch Einflussnahme, die eher indirekt stattfindet, also mit dem Umweg über die Politik. Eine größere Unabhängigkeit würde diesen Kanal etwas eindämmen. Ihn ganz auszuschalten halte ich für unrealistisch und das wäre vielleicht auch gar nicht richtig. Entscheidungen der Bundesnetzagentur sollten nicht völlig losgelöst sein von den Bedürfnissen derjenigen, die sie betreffen. Zu hören, was zum Beispiel die Industrie braucht, ist also sinnvoll.

Seit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine stand die akute Krisenbewältigung im Mittelpunkt. Was sollten aus Ihrer Sicht die Themen der näheren und fernen Zukunft sein?
Der Netzausbau ist die wichtigste Aufgabe, nicht nur bundesweit. Wir sind mal mit der Idee von der „Kupferplatte Europa“ gestartet. Wir im Sinne von wir Europäerinnen und Europäer. Die EU hat das Ziel von einem europäischen Binnenmarkt formuliert. Nicht nur bei Wein und Käse, sondern auch beim Energiesystem. Dazu braucht es transeuropäische Netze, die von der einen Seite der Grenze zur anderen funktionieren. Das heißt also, Übergänge für Stromnetze, sodass der Strom einfach fließen kann. Es würde die Effizienz steigern, nicht alles national abzusichern. Es würde bedeuten, zur Not auf den Strom aus einem anderen Land zurückgreifen zu können. In der Krise haben wir gesehen, wie wichtig das ist. Der Preis ist, dass die einzelnen Nationalstaaten ihre Politik nicht mehr allein gestalten können. Wir müssten akzeptieren, dass beispielsweise Frankreich andere Vorstellungen hat und seinen Atomstrom ins deutsche Netz einspeist. Klimapolitik ist kein nationales Thema. Diese Fragen lassen sich gar nicht national lösen. Eine stärkere europäische Zusammenarbeit ist also wünschenswert. Ein erweiterter Energiemarkt würde auch mehr Wettbewerb bedeuten. Von einem europäischen Netzausbau würde Europa als Ganzes profitieren.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Ihre beiden Podcasts werden auch von Menschen ohne vertiefte ökonomische Kenntnisse gehört und verstanden. Offenbar gelingt Ihnen also die Vermittlung selbst komplexerer Fachthemen an ein breiteres Publikum. Worauf kommt es aus Ihrer Sicht dabei an?
Es hilft, eine einfache Sprache zu verwenden. Keine Fachbegriffe, keine Fremdwörter. Gerade Juristinnen und Juristen fällt es besonders schwer, sich von einem Gesetzestext zu lösen und ihn in verständliche Sprache zu übersetzen. Es kommt auch darauf an, eine Balance zu finden. Manchmal ist es besser, nicht ganz exakt zu sein, dafür aber klarer. Für einen Gerichtsprozess oder eine wissenschaftliche Arbeit wäre das dann zu salopp. Aber ein Podcast hat eben auch ein anderes Publikum. Also: Mut zur Ungenauigkeit! Was auch hilft, sind Bilder und Vergleiche aus bekannten Bereichen.

Autos?
Ich neige eher zu Fußballvergleichen. Fußball ist beliebt, Viele kennen sich damit aus. Meistens sage ich dann dazu, dass der Vergleich ungenau ist. Aber im Ergebnis steigt das Verständnis für die Sache. Man kann sich etwas besser vorstellen. Und darauf kommt es an.

Vielen Dank für das Gespräch.

Justus Haucap ist Professor für Wirtschaftswissenschaften mit einem Forschungsschwerpunkt auf der Regulierung netzbasierter Industrien.
Prof. Dr. Haucap ist einer der Hauptredner auf der Göttinger Energietagung am 10. und 11. Mai 2023. Die Tagung widmet sich in diesem Jahr der Frage „Kursbestimmung Anreizregulierung: Wie kalibrieren wir die Koordinaten im Regulierungssystem neu?“. Es handelt sich um eine Veranstaltung des Energie-Forschungszentrums Niedersachsen (EFZN) in Kooperation mit der Bundesnetzagentur.
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