Der Datenkompetenz-Führerschein
Teil 1 zur DigiKon 2023
Jeden Tag erzeugen wir eine Vielzahl an Daten. Unsere Führungskräfte möchten wissen, wann genau wir morgens in der Firma erschienen sind. Facebook interessiert in unserer Pause, was wir gerade wo machen. Smart-Watches fordern uns abends auf, unseren Trainingsring zu schließen. Zwischendurch beantworten wir unsere Mails und WhatsApp-Nachrichten, erstellen Präsentationen und fotografieren uns in alltäglichen Situationen.
Viele Unternehmen kennen und nutzen das Potenzial dieser digital erzeugten Daten. Es ist genau so wenig neu, wie die Digitalisierung selbst. Aber wie kann ich aus dem Wust von Daten einen wirtschaftlichen Mehrwert für mein Unternehmen schaffen? Was muss ich beachten? Das Stichwort heißt Datenkompetenz oder auch Data Literacy. Eine solche Qualifikation zu erlangen, entsteht nicht allein dadurch, dass wir Daten von analogen in digitale Prozesse umstellen. Daten zu sammeln und in Grafiken aufzubereiten, reicht ebenfalls nicht aus. Es ist ein Gesamtpaket: Die Fähigkeit, Daten zu managen, zu analysieren, zu interpretieren – und für unternehmenseigene Zwecke zu nutzen.
Netze für den Mittelstand
Wie wichtig Datenkompetenz ist, zeigen die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung im Auftrag der Bundesnetzagentur. Demnach schränkt jedes dritte Unternehmen die Datennutzung aufgrund von fehlendem Know-how ein. Jedes vierte Unternehmen führt fehlende Standards als hemmenden Faktor an. Und: Mehr als die Hälfte der Unternehmen tauscht keinerlei Daten mit anderen Unternehmen aus.
Gemeinsam mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat die Netzagentur vor drei Jahren einen Entschluss gefasst. Entwicklungen in der Digitalisierung verfolgen sie seitdem verstärkt aus der Perspektive des Mittelstands. Oder besser gesagt, aus der Perspektive kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU). Ganz unabhängig davon, ob sie einem der regulierten Netzsektoren angehören. Netze zu spinnen, gehört zur Kernkompetenz der Netzagentur.
Vor zwei Jahren richtete die Bundesnetzagentur zusammen mit der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) erstmals den Netzwerktag aus. Der Netzwerktag ist ein Austauschformat für Multiplikatoren, die KMU bei deren digitalen Transformationsprozessen unterstützen. Hierzu zählen Kompetenzzentren, Kammern und Verbände sowie Digitalagenturen. Das Ziel des Netzwerktags ist es, Erfahrungen auszutauschen sowie Kooperationen zwischen Multiplikatoren zu fördern. 2023 stand bei dem Event in Bonn alles unter dem Motto „Datenkompetenz als Schlüsselqualifikation für KMU“. In diesem Jahr kooperierte die Bundesnetzagentur mit dem DIN e.V.
Einsatz für Datenkompetenz
Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, bringt es in seiner Begrüßungsrede auf den Punkt: „Wenn Daten das Benzin und Algorithmen der Motor der Digitalisierung sind, dann sind Datenkompetenzen in diesem Bild der Führerschein. Genau wie der Führerschein uns in die Lage versetzt, ein Auto sicher, effizient und verantwortungsvoll zu nutzen, ermöglichen es uns Datenkompetenzen, das Potenzial von Daten zu erschließen und die aus Ihnen gewonnen Erkenntnisse verantwortungsbewusst einzusetzen. Aber – ähnlich wie der Führerschein – erfordert es einige Anstrengungen, Datenkompetenzen zu erlangen.“
Wie wichtig es dabei ist, sich auf einheitliche Normen zu einigen, macht Sibylle Gabler deutlich. Sie ist Mitglied der Geschäftsleitung von DIN e. V. Als „Selbstverwaltungsorgan der deutschen Wirtschaft“ kämpft der DIN für marktgerechte Normen und Standards. Der Verein trägt somit unter anderem dazu bei, den weltweiten Handel zu fördern sowie Sicherheit und Verständigung zu ermöglichen.
Gleichzeitig ist Gabler im Digitalbeirat, berichtet bei der DigiKon über aktuell relevante Themen des Rates. Eines davon ist der digitale Produktpass. Es ist ein Vorhaben der Europäischen Kommission. Die Idee: Einen digitalen Produkt-Zwilling zu erschaffen, der alle relevanten Information über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg speichert. So sollen auf dem europäischen Binnenmarkt mehr umweltfreundlichere Produkte zugelassen und in Verkehr gebracht werden. Das Ziel: Bis 2030 will die Kommission Unternehmen verpflichten, den digitalen Produktpass für einzelne Kategorien einzuführen. Wird der Produktpass in der Umweltpolitik zum Game Changer? Klar ist: Immer mehr gesetzliche Regelungen machen digitale Strukturen und Strategien obligatorisch.
Regeln schaffen Vertrauen
Gabler ermutigt KMU, Ideen einzubringen, sich aktiv mit einer individuellen Digitalisierungs-strategie auseinander zu setzen und den Austausch zu suchen. Gleichzeitig sei es erforderlich, solche komplexen Vorgänge mittels Standards und Normen zu reduzieren. „Regeln schaffen Vertrauen“,
erklärt sie abschließend.
Das Publikum hört ihr aufmerksam zu, wird mit Fragen zurückgelassen. Wo fängt man an? Worauf muss man achten? „75 Prozent aller Daten- und Analytik-Projekte scheitern“,
macht Katharina Schüller, CEO & Founder von Stat-Up, zu Beginn der Fachvorträge wenig Mut. Oftmals liegen die Fehler schon in den Anfängen. „Wer nicht weiß, in welchen Ort er möchte, für den ist jede Autobahn die falsche.“
Jedes Unternehmen solle sich zunächst die Frage stellen, was man mit den Daten überhaupt bezwecken möchte. Es ist der erste von insgesamt fünf Schritten ihrer mitgebrachten Kompetenz-Level.
Datenqualität hinterfragen
Ein Anfang, eine Orientierung. Personen in KMU mit Bezug zu Daten rät sie, sich Grundlagenwissen über Datenvisualisierungen anzueignen, Daten in den richtigen Kontext setzen zu können und die Daten-Qualität zu hinterfragen. Eine Grafik könne irreführend dargestellt sein. Wichtig sei es, sich immer wieder zu fragen, ob die Visualisierung das gleiche aussagt wie die Daten für sich. Darüber hinaus sei es ebenfalls relevant, nonverbale Botschaften von Kennzahlen zu berücksichtigen und kritisch zu durchleuchten.
Tipps liefert Schüller auch zu Non-sampling-Fehlern. Es handelt sich hierbei um Fehler, die nicht auf einen reinen Zufall zurück zu führen sind. Beispielsweise der Coverage-Fehler. „Wenn Sie eine Online-Befragung durchführen, können Sie davon ausgehen, dass sich oft jüngere, auskunftsfreudigere Menschen daran beteiligen. So könnte es aber passieren, dass Sie gar nicht die Zielgruppe erreichen, die Sie interessiert“,
warnt sie. Wenn KMU solche Fallen von vorneherein beim Datenmanagement berücksichtigen, können sie vermieden werden.
Der Servicemeister hilft
Aber selbst dann: Kleine und mittelständische Unternehmerinnen bzw. Unternehmer müssen viel Zeit und Geld investieren, um von Daten bzw. Daten-Ökosystemen zu profitieren. Beides ist für viele Betriebe nicht ad hoc möglich. Das Tagesgeschäft muss weiterlaufen, zusätzliche Arbeitskräfte sind zu teuer. Es steht die unausgesprochene Frage im Raum, wie das funktionieren soll.
Hilfestellungen sind gefragt. Das Förderprogramm Servicemeister bietet eine solche Unterstützung an. Ein Projektbeteiligter betitelt das Programm später als „Alexa für den Blaumann“. Industrie-Unternehmen können auf der Website des Servicemeisters zunächst analysieren, bei welchen Herausforderungen sie künstliche Intelligenz (KI) unterstützen kann. Dafür müssen sie keine hohen Investitionen tätigen. Das Prinzip ist einfach und überzeugend: Mittelständische Unternehmen werden mit IT-Firmen zusammengeführt.
Christine Neubauer, Projektmanagerin vom Eco-Verband, zeigt den Zuhörenden drei verschiedene Blickwinkel auf: Ein Forschungsprojekt, einen KI-Einstieg eines KMU mittels Exceldatei und die Erstellung eines modernen Katalogs per Gaia-X.
„Um potenzielle Vorbehalte zu nehmen und sich mit Künstlicher Intelligenz vertraut zu machen, empfiehlt es sich, bei Bekanntem loszulegen. Anschließend kann man immer weiter einsteigen.“
So sei auch ein Automobil-Zulieferer mit 230 Angestellten vorgegangen. Der Betrieb soll einen analogen Prozess bei der Produktion von Verbindungsstellen erfolgreich in einen KI-basierten Prozess umgesetzt haben. Der Schatz liegt zunächst im Verborgenen, man muss tief graben.
Vom Papier zu KI
„Als das Projekt startete, nutzten Maschenführerinnen bzw. -führer und das Service-Technikteam bei ihrer Zusammenarbeit noch Papierlisten. Es folgten Excel mit Makros und ein KI-gestütztes Ticketsystem für technische Störungen“,
schildert Neubauer. Ein IT-Dienstleistungsunternehmen unterstützte beim digitalen Transformationsprozess. Mittlerweile erleichtert und systematisiert die KI-Anwendung den Zugang zu Störungs- und Reparaturdaten. Außerdem kategorisiert sie Daten und schlägt anhand historischer Daten mögliche Lösungswege vor. Eine Innovation, die viel Zeit und Geld spart.
So wie generative KI. Damit sind Anwendungen gemeint, die ein neues Ergebnis auf Basis von einem Input generieren. Beispielsweise mittels „Prompts“, also kurzen Anweisungen bzw. Textfragmenten, die erforderlich sind, um KI-Tools dazu zu bringen, eine gewünschte Antwort zu generieren. Dr.-Ing. Maximilien Kintz von Fraunhofer IAO widmet seinen Vortrag den Potenzialen und Auswirkungen generativer KI auf Datenkompetenzen.
Handeln nötig
Anwendungsfelder generativer KI finden sich überwiegend in den Bereichen Audio, Text und (Audio-)Vision. Eine Anwendung ist aktuell besonders beliebt: ChatGPT. Der Chatbot soll schon der ein oder anderen Person Hausarbeiten bzw. -aufgaben abgenommen haben. Aber ist darauf immer Verlass? „Um KI zu verstehen, müssen wir wissen, wie ChatGPT und ähnliche Programme funktionieren“
, ist Dr.-Ing. Kintz überzeugt. „Wer die Potenziale generativer KI nutzen will, muss seinen Mitarbeitenden Schulungen zum Umgang mit KI anbieten.“
Und das am besten schnellstmöglich. Andernfalls könnten Unternehmen den Anschluss an die Konkurrenz verlieren.
In seinem Vortragskoffer hat Dr.-Ing. Kintz ein ganzes Bündel an Handlungsempfehlungen mitgebracht. Dabei nimmt er nicht die Unternehmen selbst in die Pflicht. „Wir brauchen in der EU eine große KI-Initiative, um international mithalten zu können. Ideal wäre ein CERN (Europäische Organisation für Kernforschung, Anmerkung der Redaktion) für KI“,
glaubt Kintz. Seine Position macht er auch in der anschließenden Paneldiskussion deutlich.
Diskussion im Panel
Genauso wie Professorin Dr. Beate Rhein von der TH Köln, die in puncto Schulungen einen ähnlichen Standpunkt vertritt. „Daten werden Unternehmen zukünftig treiben und machen Schulungen erforderlich.“
Wie alle Mitarbeitenden zu Datenkompetenz abgeholt werden können, erläutert Dr. Valentin Kemper von Comma Soft. Er hat einen Change-Prozess im gesamten Betrieb vor Augen: Bewusstsein schaffen, Befähigung erlangen, Kommunikation von oben, Begeisterung erzeugen. Das sind seiner Meinung nach die Bausteine, die zum Erfolg führen.
Aber ist es tatsächlich realistisch, dass ein KMU all die Prozesse, Schulungen und Maßnahmen alleine stemmen und umsetzen kann? Die Diskussion nimmt Fahrt auf.
„Es ist sehr schwierig, KMU vom Tagegeschäft wegzulocken“,
berichtet Hauke Timmermann von seinen Erfahrungen beim Projekt Servicemeister. Daten könnten aber von mehreren KMU zusammengetragen, Kosten geteilt werden. „Entsprechende digitale Infrastrukturen könnten zukünftig auch Verbände – auf Basis von Gaia-X – anbieten.“
„KMU sollten bei ihrer Transformation von Expertinnen und Experten begleitet werden“,
meint hingegen Dr. Philipp Giese von Euronorm. Aus seiner Perspektive als Projektleiter von Go-digital berichtet er aus der Praxis: Eine Pizza-Bäckerei suchte nach einer unkomplizierten Lösung, das zubereitete Essen möglichst warm zu liefern. Letztlich teilten alle Pizzabotinnen und –boten ihren Standort via Smartphone. Die Bäckerei musste sich nur noch daran orientieren, wer als nächstes seiner Lieferung abholte. In dieser Reihenfolge arbeiteten sie die Bestellungen ab. Einfach, simpel, effizient. Auch auf den zweiten Blick?
Privatsphäre und Prozessintegration seien herausfordernd gewesen. Und nicht immer ist es so leicht wie in diesem Fall, Daten-Input von Mitarbeitenden zu erhalten. Vorsicht sei auch bei deren Analyse geboten. „Der größte Mythos ist, dass Daten für sich selbst sprechen“,
ist sich Katharina Schüller sicher. Wichtig sei es immer herauszufinden, was hinter den Daten steckt und wie sich Aussagen dazu ändern können.
Immer wieder hört man aus dem Publikum Bestätigung. Aber auch kritische Rückfragen, wie das mit der Datenschutzgrundverordnung vereinbar ist und ob es im KMU-Alltag realisierbar ist.
„Mit dem Thema Datenkompetenz haben wir ein wichtiges Thema für die digitalen Transformationsprozesse in Unternehmen aufgegriffen, welches angesichts von Megathemen wie Künstlicher Intelligenz oder digitaler Plattformen manchmal etwas in den Hintergrund gerät. Daher finde ich es umso wichtiger, dass wir dieses wichtige Thema heute hier in den Mittelpunkt gestellt haben“,
bringt es Dr. Wilhelm Eschweiler, Vizepräsident der Bundesnetzagentur, zum Abschluss des Vormittags auf den Punkt.
Anlaufstellen für Digitalisierungsvorhaben finden KMU hier.